Mindeststandards
f. Sprachkenntnisse? 11.10.08
Sehr geehrte
Frau Birkenbihl, seit ich mich mit Fremdsprachen befasse und dazu Meinungen
einhole ,stoße ich immer wieder auf Aussagen wie "Ich habe letztes
Jahr Spanisch gelernt." oder "Mein Mann kann Italienisch.". Liest
man bei Amazon die Bewertungen einzelner Sprachkurse, behaupten da Leute tolle
Sachen von sich: "Ich habe mit Kursen dieser Reihe Französisch und
Spanisch gelernt." (Dabei geht es um einen Minimalkurs, der ein paar Brocken
Urlaubssprache vermittelt.) Gelegentlich hört man sogar Sätze wie:
"Herr Müller spricht sechs Sprachen." Ich beobachte, daß
derartige Aussagen, egal wer sie tätigt, bei anderen Leuten stets Bewunderung
auslösen - und zwar ohne weiter hinterfragt zu werden.
======= ich stimme Ihnen zu. deshalb antworte ich auf die frage, wieviele sprachen
ich spreche, immer mit: Ich befasse mich mit 20 sprachen, von denen ich
die meisten gar nicht SPRECHEN möchte, weil ich nur lernen möchte,
wie sie funktionieren. sprechen (so daß ich in ihnen vorträge halten
kann) kann ich drei fließend und zwei, in denen ich arbeiten kann, wenn
ich mich einige tage lang neu auf sie einstelle...
Das wirkt
sich dann auch aufs Selbstbewußtsein von Sprachenlernern aus: Man bekommt
langsam den Eindruck, von Leuten umgeben zu sein, die sich offenbar ohne größere
Schwierigkeiten verschiedene Fremdsprachen perfekt angeeignet haben, während
man selber für sich akzeptiert hat, daß Sprachenlernen ein längerer
Prozeß mit offenem Ende ist.
====== man ist ja nicht einmal in der muttersprache je am ende des prozesses!
immer wieder gibt es neue wörter oder bessere begriffe, die man nutzen
könnte, von sprachbeherrschung im sinne von syntax ect. ganz zu schweigen.
ich würde z.b. niemals behaupten, deutsch perfekt zu können!
Niemand
"kann" eine Sprache vollständig - aber genau das wird uns häufig
vorgelogen.
======= sie möchten vielleicht Ihre sprache überprüfen. eine
LÜGE impliziert, daß jemand wissentlich die UNWAHRHEIT spricht. diese
leute aber lügen nicht. sie wurden vom schulsystem verseucht. sie glauben,
nach 3 wochen wurzelziehen diese tätigkeit perfekt zu beherrschen,
weil sie einmal eine gute note dafür erhalten hatten. in der schule lernt
man nicht, daß MEISTERSCHAFT viele jahre ständigen übens benötigt.
so üben weltspitzensportler in der regel ca. 10 jahre, ehe sie in die meisterklasse
kommen, pianisten und violin-solisten sogar 15 - 17 jahre, ehe sie diesen zustand
erreichen. davon erfährt man im regelschulsystem jedoch in der regel nichts,
nur an besonders guten oder privaten schulen...
Ehrlicherweise
müßte man doch immer eine Bewertung der Sprachkenntnisse hinzufügen,
etwa "ein paar Brocken" oder "recht gut" oder "fliesend"
- und selbst diese Begriffe sind dehnbar.
======== tja, da sehen Sie, daß viele dinge nicht so einfach bewertet
werden können, wie die schule es jahrelang tut, wobei sie den eindruck
erweckt, man könne komplexe handlungen mit einfachen noten beurteilen.
das ist das ERGEBNIS, ohne daß die betroffenen hier böse absichten
hätten...
Auch manche
käuflichen Sprachkurse, deren Autoren es besser wissen müßten,
sind nicht frei von derartigen Pauschalierungen. Wenn man z. B. liest "Lernen
Sie in 30 Tagen Italienisch" oder "Sprechen Sie am Ende des Kurses
Englisch wie ein Muttersprachler", dann vermittelt dies dem unerfahrenen
Anfänger völlig falsche Vorstellungen vom Potential des Kurses.
====== richtig, wobei nur SCHULGESCHÄDIGTE auf solche formulierungen hereinfallen,
jene, die ich deshalb öfter als OPFER bezeichne, wobei die eigentlichen
täter in schulbehörden und unter politikern zu suchen sind, die lehrkräfte
sind oft auch OPFER unseres systems (vgl. vortrag 3, karslfeld, 2008!)
Wie sehen
Sie das?
===== s.oben
Gibt es
irgendwelche anerkannten "Mindeststandards" für Sprachkenntnisse,
die jemanden "berechtigen", sich als der Sprache mächtig zu bezeichnen?
Ab wann darf ich sagen: "Ich kann Englisch."?
======== das muß jeder selber entscheiden. selbst ein zeugnis, diplom
oder zertifikat muß keinen beweis darstellen, wie alle kennen leute mit
credentials, die weniger können/wissen als andere ohne... so
sind die japaner und koreaner z.b. weltweit führend, was gute noten für
fremdsprachenunterricht angeht, weil sie phänomenal gut grammatik-übungen
absolvieren und vokabeln plus sprachregeln pauken können. gleichzeitig
sind sie die schlimmsten, weltweit, wenn wir die meisterschaft fremder sprachen
begutachten. hier ist das problem-BEWUSSTEIN wichtig, denn einfache antworten
kann es aufgrund der komplexität der fragestellung niemals geben! lassen
Sie sich nicht in derselben falle fangen!
Wie soll
man damit umgehen, wenn man z. B. im Rahmen einer Bewerbung nach Sprachkenntnissen
gefragt wird? Einfach "drauflos behaupten", wie es so viele Leute
tun?
====== das sollten Sie nicht andere, sondern sich selber fragen. ich beschreibe,
z.b. ob ich in der sprache einen vortrag halten aber keinen smalltalk ausführen
könnte (französisch), da smalltalk zu den schwierigsten themen
in jeder sprache gehört, ich kann (und will) es schon auf deutsch nicht...
das heißt, daß ich nicht geeignet bin, mit leuten zu kommunizieren,
für die smalltalk sehr wichtig ist (weil wir so beziehungen herstellen
und stärken, was nicht eine meiner großen stärken ist!). solche
einsichten sind m.E. weit wichtiger als klare etiketten...
Und wie
kann man, wenn man seiner Selbsteinschätzung nicht traut und ehrlich bleiben
will, zu einer realistischen Bewertung kommen?
====== indem Sie jene fragen, die Ihre zuhörer sind. ich weiß von
seminarteilnehmerInnen, daß mein französisch passabel, mein holländisch
ausgezeichnet sind oder daß ich im Italienischen zwar ziemlich gut verstehen
aber extrem wenig sagen kann etc. das sagen mir die leute, mit denen ich in
jenen sprachen zu tun habe bzw. ich merke, ob nach meinem vortrag 1. fragen
kommen, 2. welche teilthemen des vortrages sie ausbauen und 3. inwieweit ich
sie verstehen kann. das sind ziemlich gute indikatoren...
vfb
Andreas
Beitinger |